Ich bin eigentlich dick, seit ich denken kann. Das ging in der Kindheit los, ich hatte mit neun Jahren meine erste Abnehmkur, Brigitte Diät, für eine ganze Woche. Ich erinnere mich, dass eine Bedienung im Restaurant während eines Urlaubs mit meinen Eltern - da muss ich so elf Jahre alt gewesen sein -beschwichtigend sagte, das Babyspeck sich ja verwüchse, wenn das Kind erwachsen wird.
Ich fuhr schon immer viel mit dem Fahrrad, ritt, segelte und tanzte. Ich war mit neun Jahren Vize Stadtmeisterin im Bodenturnen. Trotzdem hat sich mein Babyspeck nicht verwachsen, obwohl ich sogar eine von der Krankenkasse gezahlte Ernährungsberatung machte, die gefühlt nichts anderes tat, als mich alle zwei Wochen auf die Waage zu stellen und mir vorzubeten, was ich alles falsch machte. Ich war 17.
In der Ausbildung brachte ich bei 1,69m Körpergröße gut 90 Kilo auf die Waage. Während der Schwangerschaft zum Ende der Ausbildung nahm ich auf 130 Kilo zu. Ich bekam meine Tochter drei Monate nachdem ich die Ausbildung abgeschlossen hatte. Drei Jahre später heirateten ihr Vater und ich. Ich hatte sogar ein auf den Leib geschneidertes Brautkleid, weil eine Freundin meiner Mutter, die gerne Brautkleider nähte, es als Herausforderung betrachtete, meinen voluminösen Körper ansprechend zu verpacken.
Meine angestammte Kleidergröße war zwischen 50 und 54. Ich hasste mich selbst, dieses schwammige Wesen, das es auch mit gefühlten drölfzig Diäten nicht schaffte, seinem Körper eine hübschere Form zu geben. Ich probierte Herbalife, die Eierdiät, Kohlsuppe, Slim fast und andere Formuladiäten, Trennkost, Knäckebrot und Hüttenkäse – immer dasselbe Ergebnis. Der Anfangserfolg war da, aber egal wie lange ich durchhielt, ich wog hinterher oft mehr als vorher.
Dann kam die Trennung und mit Ihr ein neuer Mann. Ich war verliebt, Essen war oft nicht so wichtig, meine Kleider fingen an zu schlottern. Als der neue Mann zum Arbeiten nach Frankfurt am Main gehen musste und wir nur noch einen Wochenendbeziehung hatten, wurden sie wieder enger. Die Diagnose MS tat ihr übriges, Frust auf ganzer Linie.
Ein halbes Jahr später hatte ich endgültig genug.
Ich hatte von Weight Watchers gehört, konnte mir aber eine Mitgliedschaft nicht leisten. Umso glücklicher war ich, als ich das erste Programm zum Herunterladen fand. Kostenlos. Also begann ich zu rechnen. Wie viele Punkte durfte ich bei meinem Gewicht täglich zu mir nehmen? Ich schrieb minutiös jede Mahlzeit mit. Und siehe da, endlich ein bleibender Erfolg. Als mein Freund wieder nach Hause kam, hatte ich auf 105 Kilo abgespeckt. Wir heirateten in 2010 und der Erfolg ging weiter. Bei unserer Hochzeitsfeier ein Jahr später war ich zum ersten Mal seit zehn Jahren zweistellig geworden.
Dann kam der Low Carb Trend, den ich auch mitnahm. Bis zum September 2014, genau bis zum 26. September, hatte ich auf 83,4 Kilo abgenommen.
Da konnte ich noch laufen. Mit Stock und nicht mehr lange, aber noch auf beiden Füßen.
Der Rollstuhl kam ein Jahr später und mit ihm langsam aber stetig wieder mehr Gewicht. Ich musste immer mehr Hosen und Pullover aussortieren, weil sie zu eng waren. Im November 2016 hatte ich mein altes Kampfgericht wieder erreicht. 130 Kilo.
Ich gab auf. Ich hatte Multiple Sklerose und saß im Rollstuhl, was wenn nicht Essen und Trinken sollte mir noch Freude geben. Natürlich war da noch mein Mann, aber gefühlt sehr weit weg. Die Scham über meinen Körper tat ihr übriges, wir waren nur noch selten Mann und Frau.
Im Januar 2018 kann ich zur Reha. Und Wunder über Wunder, ich hatte mein Gewicht gehalten. Die Ernährungsberaterin in der Klinik, dünn wie ein Faden, spielte die Einfühlsame und versuchte, mir in einer Stunde Dinge zu erklären, die ich seit Jahren wusste. Zum Abnehmen gebracht hat sie mich nicht.
Ein halbes Jahr später hörte ich von einer Studie, die zwar die Primär Schubförmige MS betrachtete. mir aber trotzdem sehr interessant vorkam. Es ging darum, den größten Teil des Tages nichts zu essen. 16 Stunden. Das sollte nicht nur den Abnehmerfolg garantieren sondern obendrein dafür sorgen, dass sich die Kraftverhältnisse im Körper verbessern. Erste vorsichtige Erfolge berichteten, dass sich sogar bestehende Behinderungen leicht zurückbildeten.
Der heiße Sommer 2018 hatte mich wieder weit zurückgeworfen. Die 30 m Gehstrecke, die ich in der Reha gelernt hatte, waren wieder auf etwa 5 m zusammengeschmolzen, eine Treppe konnte ich gar nicht mehr nutzen. Wann also anfangen wenn nicht jetzt.
Ich war noch nie ein großer Frühstücker, also setzte ich meine Essenszeiten von zwölf bis 20 Uhr. In der Zeit dazwischen sollte ich maximal 30 Kalorien zu mir nehmen. Am Anfang klappte das wunderbar. Aber nachdem sich nur wenige Erfolge einstellten, ließ ich es immer weiter schleifen. Zum Winter hin waren Chips und Gummibärchen wieder meine besten Freunde. Und die Depression gleich mit.
2019 war ein schwieriges Jahr, und ich hatte keine Kraft, das Intervallfasten wieder aufzunehmen. In diesem Januar allerdings sagte ich Gewicht und Behinderung erneut den Kampf an. Und diesmal scheint es zu funktionieren. Seit Januar habe ich 10 Kilo verloren, stehe wieder sicherer und ich kann mich wieder allein ins Bett legen. Und es geht weiter. Mein Ziel ist, am Ende des Jahres wieder zweistellig zu sein.