28.09.2008*
Der Septembertag blinzelte mit müder Spätsommersonne in den modern eingerichteten Behandlungsraum. Abstrakte Bilder an den Wänden, alles in schwarz-weiß gehalten und viel Licht, das mir ein wenig von meiner Angst zu nehmen suchte. Mein Herzschlag erinnerte an das schnelle aber stetige Wumm-Wumm-Wumm tiefer Basstrommeln. Angst? Nein, natürlich hatte ich keine Angst. Nur ein kurzer Stich zwischen die Wirbel, um etwas Nervenwasser zu entnehmen. Ohne örtliche Betäubung, denn die tut mehr weh als der eigentliche Stich.
Die letzte von gefühlten tausend Untersuchungen. Reizstrom hier, so heftig, dass Finger und Zehen willenlos zucken. Dann das Kernspintomogramm, immerhin mit Ohrenschützern auf dem Kopf, um den dröhnenden, tickernden, summenden Geräuschen nicht direkt ausgesetzt zu sein. Der Ultraschall zum Glück nur eklig wegen des Kontaktgels. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, klammerte sich hartnäckig in die Mundwinkel, erreichte die Augen nicht.
„Ich werde Ihnen direkt vor der Infusion Blut abnehmen, dann muss ich sie nur einmal stechen“, entschied die Arzthelferin mit einem Anflug von Mitgefühl in der Stimme.
Ich saß auf der schwarzen, kunstledernen Pritsche, blickte die Wand an und fühlte mich verloren. Sie stellte sich nun direkt vor mich und bugsierte meinen nackten Oberkörper in die richtige Stellung, ein wenig nach vorn geneigt, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Arzt war mittlerweile in den Raum getreten, eine ruhige Präsenz, die mich die lange, spitze Nadel in ihrer Hand fast vergessen ließ. Ich atmete langsam, ein anspruchsloser Patient, der alle Untersuchungsmarter klaglos über sich ergehen lässt. Ein Schaf auf der Schlachtbank? Und da, der Stich. Unwillkürlich richtete ich mich ein Stück auf, um dem Schmerz zu entgehen. „Nein, Sie müssen den Rücken rund machen, sonst tu ich Ihnen noch mehr weh!“
„Nun ist es gleich vorbei.“ Die Arzthelferin tätschelte meinen Rücken, strich mir die Arme entlang und schielte dabei auf das nadelförmige Ausrufezeichen in meinem Rücken, das noch letzte Tropfen meines Nervenwassers in das Auffangglas entließ. „Jetzt ein kleines Pflaster drauf und wir können zur Infusion nach gegenüber gehen.“
Erst als das Gift, das mir Linderung verschaffen sollte, langsam in meine Vene tropfte, wurde mir bewusst, was die letzte Woche für mich bereitgehalten hatte. Multiple Sklerose. Vielfache Verhärtung. Entzündliche Nervenkrankheit, Autoimmunschwäche, unheilbar. UNHEILBAR!!!
So langsam wie die klare Flüssigkeit aus der Flasche in meinen Körper rannen mir die Tränen übers Gesicht. Ich weinte stumm, ohne zu schluchzen. Mit dem widerlichen Geschmack in meinem Mund breiteten sich ebenso widerlich schmeckende Gedanken in meinem Kopf aus.
Nie wieder unbeschwert wandern, ob ich einen Treppenlift brauchen werde? Wann werde ich im Rollstuhl sitzen? Tanzen braucht er nun nicht mehr zu lernen, ich kann es sowieso nicht mehr, wenn ich schon für zweihundert Meter überlege, ob ich nicht lieber ins Auto steigen soll, damit ich wieder zurück komme. Was werden die Eltern, die Kollegen, die Freunde sagen? Wie viele werden mich fallen lassen? Und wie oft werde ich mich noch am Bügeleisen verbrennen?
Ich habe versagt! Eine Mutter hat nicht krank zu sein! Was soll ein Kind schon mit einer behinderten Mutter, einem Krüppel?
KRÜPPEL! KRÜPPEL!
Dieses schreckliche Wort hämmerte in meinem Kopf, dröhnte in meinen Ohren. Niemand hatte es ausgesprochen, trotzdem hörte ich die Häme und fühlte jetzt schon die mitleidigen oder verächtlichen Blicke auf mir ruhen. Sah die in Tränen schwimmenden Augen meiner Tochter bittend zu mir aufsehen, las die Frage darin. Nicht so schlimm, nicht wahr? Mami, du wirst doch wieder gesund?
Im nächsten Moment kam dann das Leugnen.
Es kann nicht sein, es darf nicht sein. Hör auf, in der Schwärze zu versinken, es ist bestimmt nur ein geklemmter Nerv. Oder sonst was. Es war doch schon mal nur akut. Warum sollte es jetzt denn chronisch sein? Du bist doch gesund. Und das mit dem Laufen wird auch alles wieder, das war nur die Müdigkeit nach dreieinhalb Stunden Fahrt.
Zwei Tage und zwei Infusionen später zwang ich mich zu einer Bestandsaufnahme. Sie begann und endete mit einem Fluch, dessen Wirkung ich erst wieder merkte, als ich sie selbst zu spüren bekam: ‚Und möge alles was du zu dir nimmst in deinem Mund zu Asche werden.’ Nein, dachte ich, nicht Asche. Cortison. Teufel und Beelzebub. Heilendes Gift, das meine Lippen brennen lässt und mir alles Essen verleidet.
Und sonst? Hände ohne Gefühl, Füße, die unter mir wegsacken, Knie, auf die ich mich nicht mehr verlassen kann.
Aber nur noch ein paar Tage, dann wird sich der Schleier von meinen Augen ziehen. Ich werde den Faden, mit dem ich nähe, wieder spüren können, die Grifflöcher der Flöte. Meine Musik, wenn nichts mehr wieder kommt, habe ich wenigstens noch meine Musik.
Hoffnung, immer wieder Hoffnung. Trotz des Endes aller Lügen, trotz der unumstößlichen und allerschütternden Wahrheit. „Ihre Variante ist sehr langsam und gutartig. Sie müssen noch keine Medikamente nehmen, wenn Sie es nicht möchten. Ein bisschen mehr Beobachtung reicht hin.“ Glück im Unglück, Besänftigung der bohrenden Fragen.
Dann kam die Erlösung. Ein Schritt mehr, zwei, drei, fünf, zehn, zwanzig. Immer mit dem verbissenen Gesicht völliger Konzentration, aber stetig bergauf. Auf die Frage „Wie geht es dir?“ antwortete ich „Immer besser“, auf ein „Ist alles in Ordnung mit dir?“ kam nur ein „Alles gut“.
Und wie jetzt weiter? Diese Frage stellte ich mir nur zu Anfang. Ich beschloss, mich nicht kleinkriegen zu lassen. Ich beschloss, einer Krankheit den Kampf anzusagen, mich nicht von ihr besiegen zu lassen, die Welt zu genießen. Es folgten die ersten Schritte auf hochhackigen Schuhen und die Witzelei: „Weißt du noch, die wollte ich alle wegschmeißen!“
*Diesen Text schrieb ich vor elf Jahren als Verarbeitung meiner Diagnose.