„Wie, du hast noch keinen Ausweis?“ Ich werde ungläubig angesehen. Wir schreiben Ende 2015, der Rollstuhl war in diesem Jahr im Urlaub zum ersten Mal mein Begleiter für längere Strecken. Noch kann ich gehen, lange schon nicht mehr so schnell oder so weit wie neun Jahre zuvor, als ich mit meinem DamalsNochFreundHeuteEhemann auf den Brocken wanderte. Der Rückweg wurde mir sauer, meine Füße platschten auf den Weg, abrollen nicht mehr möglich. Na ja, nach 20 km ungewohnten Bergwanderns war ich eben einfach kaputt. Dachte ich. Rückblickend weiß ich, dass diese Wanderung mein letzter längerer Fußweg war. Schon in der Vorweihnachtszeit 2007 hatte ich wieder Schwierigkeiten. Wir wollten in Frankfurt am Main ausgehen und liefen zu Fuß in Richtung des Lokals. Etwa zwei Kilometer, eigentlich keine Entfernung. Sicher, mir war der Gummi am Stiefelabsatz zerbröselt und ich lief auf einem runden Schraubenkopf, was den Weg zusätzlich erschwerte. Aber so sehr, dass ich mich nach der halben Strecke an nahezu jedem Laternenmast festhalten und pausieren musste?
Zwischendurch ging es immer wieder aufwärts, wie zum Beispiel 2009, als wir zum 70. Geburtstag meiner Mutter und der Goldhochzeit meiner Eltern einen historischen Tanz präsentierten. Aber im Großen und Ganzen sehe ich vom heutigen Standpunkt aus, dass meine Wegstrecke nie wieder so weit war wie zu dieser Wanderung. Ich stürzte häufiger und bekam im Juni 2015 (endlich) die Bestätigung, dass ich mir die Laufschwierigkeiten nicht nur eingebildet hatte. Ein schwerer Schub im Rückenmark sei der Auslöser, den man auf den MRT – Bildern nicht gesehen hatte, weil diese nur den Kopf zeigten. Die darauf folgende Eskalationstherapie im November 2015, so wissen wir mittlerweile, löste den Übergang in die progrediente Phase aus.
Im Januar 2016 beantragte ich einen Schwerbehindertenausweis. Schon das war nicht einfach. Ja, gut, MS. Na und?
Nein, leider nicht na und.
Ende März bekam ich den Feststellungsbescheid. Grad der Behinderung von 60, damit schwerbehindert. Unbefristet. Ich hielt dieses so wichtige Dokument in den Händen und weinte. Nicht etwa vor Erleichterung sondern vor Scham. Nicht einmal 40 Jahre alt und schon kaputt.
Trotzdem feierte ich meinen Geburtstag voller Trotz riesengroß, lud meine Freunde und die Familie für ein ganzes Wochenende ein, präsentierte mich allen im Rollstuhl. Zwar lief ich noch auf Krücken, aber war jedes Mal erleichtert, wenn ich den Rollstuhl hatte. Und es ging stetig weiter bergab, im Januar 2017 stellte ich einen Verschlechterungsantrag, der im Juli bewilligt wurde. Grad der Behinderung 80, Merkzeichen für außergewöhnliche Gehbehinderung und Begleitung. Als nächstes kam der Antrag auf einen Pflegegrad, der ebenfalls bewilligt wurde.
In der Firma half mir ein Kollege, hob zunächst jeden Tag meine vier Räder aus dem Auto. Ich kraxelte auf Krücken an meinen Arbeitsplatz und setzte mich um, sobald er kam. Dann begann ich, den Rollstuhl am unteren Ende der Treppe anzuschließen, um mir auch den Weg in den vierten Stock zu ersparen. Im November 2017 war es dann soweit, ich ließ mir einen Rollstuhltransporter aufs Auto bauen, damit ich direkt vom Auto aus losrollen konnte. Einerseits eine große Erleichterung, andererseits sich immer mehr vertiefende Scham, dass ich es so gar nicht mehr schaffte, so wie alle anderen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Neid und Wut kamen gleich mit und machten mich traurig, ärgerlich, genervt. Diese Zeit wird für die Menschen, die in direktem Kontakt mit mir waren, nicht einfach gewesen sein. Ich fiel lieber hin, als um Hilfe zu bitten, war unwirsch und ablehnend, ging auf Konfrontationskurs. Ich konnte ja sowieso nichts mehr. Und dieser verdammte Stolz. Viel zu viel Stolz, wie ich zu den verschiedensten Gelegenheiten, zu denen ich die rigoros abgelehnte Unterstützung gebraucht hätte, doch leise merkte. Dinge dauerten immer länger, wurden schief, klappten gar nicht. Ich betrachtete mich nicht als etwas Besonderes sondern als schlechtes Wesen, das allen um mich herum nur Arbeit machte. Oft nicht einmal mehr als Menschen. Ich begann, mich zuhause zu vergraben, nahm nur noch die Termine wahr, die ich wahrnehmen musste. Funktionieren, lächeln, „alles gut“ behaupten, genau wissen, dass es das nicht war und von dieser Warte aus nie wieder sein würde.
Und es gab keinen Aha – Moment.
Mein Mann, die Eltern, der Bruder, die Freunde sorgten sich um dieses immer stärker verfallende weil keinerlei Selbstwert mehr empfindende Wrack. Auf gut deutsch: ich kotzte mich selbst an. Und eine Lösung war nicht in Sicht.
Bis zu der Person, die ich heute bin, flossen literweise Tränen. Ich schrie, ich haderte, ich jammerte, aber zum Glück hatte ich nicht den Mut, mir etwas anzutun, das weiter als ein heftiger Schlag aufs Bein (das durchaus blau wurde) oder einen anderen nicht funktionierenden Körperteil ging. Ich empfand unbändige Wut auf alles, was mich nicht unterstützte – was in der Hauptsache mein Mann zu spüren bekam. Dazu kamen heftige Probleme in meiner engeren Familie, mein Enkel, der im Januar zur Welt gekommen war, wurde mir – so empfand ich es – entzogen, obwohl ich mich (wie ich fand) nach allerbester Möglichkeit um meine Tochter und den Kleinen gekümmert hatte. Ein weiterer Halt brach weg. Ein Abschied nach dem anderen, die Instrumente, die ich so geliebt hatte, die Besuche bei Freunden, die spontanen Kurzurlaube, die längeren Autofahrten, alles lag zerbrochen hinter mir.
Bis ich mir irgendwann klar machte, dass ich mich selbst wegwarf.
Der Antrag auf Pflegegrad und der damit verbundene Begutachtungstermin durch den medizinischen Dienst löste meine erste Reha – Maßnahme aus, in der ich nebst verschiedenster Therapien für die körperliche Verbesserung auch die Unterstützung für meinen Kopf bekam, die ich wohl sehr dringend brauchte. Wöchentliche Sitzungen bei einer Psychologin und gerade auch die Kunsttherapie brachten mich dazu, dass ich anfing, mir wieder Dinge zuzutrauen. Ich stellte fest, dass meiner Großmutter Talent fürs Zeichnen und Malen nicht halb so sehr an mir vorbeigegangen war, wie mich meine Kunstlehrerin in der Schule hatte glauben machen wollen. Und in der zweiten Reha – Woche begann ich endlich meinen persönlichen Neuanfang.
Es war im Februar 2018.
Ich bin noch lange nicht psychisch gesund aber weit belastbarer, als ich es vor der Maßnahme war. Mein Lächeln ist immer echter, ich lerne, mich, meine Fähigkeiten, meine Gegebenheiten und auch meine Hilfsbedürftigkeit anzunehmen. Ich lerne, um Hilfe zu bitten – und bin oftmals erstaunt, wie bereitwillig und freudig sie gegeben wird. Es ist bei weitem nicht alles Gold, was da so glänzt, aber ich sehe mich wieder besser in der Lage, mir selbst ein gewisses Maß an Wertschätzung entgegenzubringen. Die zwei Schattenjahre sind nicht verloren, ich habe diese Zeit gebraucht, um mir wieder im Spiegel in die Augen sehen zu können.
Jedenfalls oft.