Was ist Multiple Sklerose und wie erlebe ich sie?
Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit. Das heißt, dass mein Immunsystem prinzipiell das richtige tut, nur bekämpft es keine Eindringlinge von außerhalb, sondern erkennt meinen Körper als Gegner. Stellt euch vor, dass ein Aufräumkommando, das eigentlich für den Kölner Karnevalsumzug UND die Loveparade gedacht war, in Klein-Kleckersdorf ein Großreinemachen veranstaltet. Immer wieder.
Und dieses Klein-Kleckersdorf ist nun dummerweise mein Gehirn und Rückenmark. Und das Aufräumkommando hat genau genommen jeden Applaus verdient, denn es macht seine Sache richtig gut.
Das Prinzip ist gleich, aber die Auswirkungen sehr unterschiedlich.
Das allerwichtigste ist für mich: MS ist nicht ansteckend!
Zum großen Glück auch nicht erblich.Selbst die leiblichen Kinder eines an Multipler Sklerose erkrankten Elternteils haben eine gerade mal um vier Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit, selbst zu erkranken.
Einzig sicher ist, dass MS bisher nicht heilbar ist – ich bin da trotzdem guten Mutes, vor dem Hintergrund der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen verschiedenste Entwicklungen im medikamentösen Bereich schon sehr viel Schrecken genommen haben.
Und auch im Rollstuhl zu sitzen ist nicht die unabänderliche Folge der Diagnose.
Es heißt in allen Fällen, dass die körpereigenen Abwehrzellen die eigenen Nervenzellen angreifen, indem sie Entzündungen nicht stoppen sondern auslösen. Genau genommen werden nicht die Nerven selbst verletzt, sondern die Schutzschicht, das Myelin, das die Nervenbahnen in Gehirn und Rückenmark umgibt. Der Versuch, das einfacher darzustellen: das Aufräumkommando veranstaltet Entzündungsparties, deren Folgen denen der feuchtfröhlichsten Parties gleichen, die ich jemals erlebt habe. Und wie jeder eine solche Party anders verkraftet, ist auch das Erscheinungsbild der MS für jeden anders. Der eine mag MS als als seltenes Kribbeln über dem rechten Mundwinkel empfinden, der nächste als Seh- oder Empfindungsstörungen (Schlagworte sind hier zum Beispiel „Doppelbilder“ und „Ameisenlaufen“) und der – zum Glück bei weitem seltenste- Fall äußert sich eben in langen Touren im Rollstuhl. Die MS heißt nicht umsonst die „Krankheit der 1000 Gesichter“. - und nur weil „Mein Cousin jemanden kennt, der auch MS hat“ heißt das noch lange nicht, dass wir vergleichbar sind.
Bei mir begann es nahezu klassisch mit einer Entzündung des Sehnervs. Erst war da ein blinder Fleck, wenn ich mit dem linken Auge nach rechts sah. Schon am nächsten Tag war aus dem Fleck ein Schleier geworden, es war, als sähe ich durch eine Mullgardine. Aber nur mit links.
Wieder einen Tag später hatte die Mullgardine drei Lagen und schon am Abend war ich links blind.
Der Besuch als Notfall (mit fünf Stunden Wartezeit) beim Augenarzt am Tag darauf ergab, dass ich Wasser auf der Linse hätte.
Na ja.
Im Nachherein weiß ich, das ich auf einem Auge blind geblieben wäre, hätte ich dieser Diagnose vertraut. Mein Glück war, dass ich nicht glaubte und – trotz meines vier Monate alten Babies – ins Krankenhaus fuhr. Vielmehr, mich von meiner Mutter fahren ließ.
Mein Auge wurde schnell und sehr genau angesehen, daraufhin holten sie den Stationsarzt am Freitagabend um sieben aus seinem wohlverdienten Wochenende, ich bekam einen Bettplatz in einem Sechsbettzimmer – und noch am selben Abend die erste Hammerdosis Cortison.
Ein ganzes Gramm.
In den folgenden vier Tagen jeden Tag ein weiteres. Und der Schleier hob sich.
Ein Gramm Cortison klingt nicht viel, oder? 1000 mg schon eher. Es ist eine Schubtherapie, diese hohe Dosis. Ich habe in der Zeit, in der ich noch Angst vor Schüben haben musste, insgesamt zehn solcher Cortisontherapien bekommen. 1000 mg pro Tag, entweder drei oder fünf Tage lang. Zu Anfang musste ich dann noch Tabletten hinterher nehmen, die Therapie „ausschleichen“. Die Nebenwirkungen hatte ich in jedem Fall. Nach der ersten Dosis dauerte es maximal eine halbe Stunde.
Egal was ich aß, es schmeckte alles widerwärtig, hatte einen Geschmack wie ein Kupferklotz in meinem Mund. Der Blutzucker spielte völlig verrückt und mein Gesicht glich einem teigigen Vollmond. Wenn ich das Cortison absetzte, hatte ich Schmerzen in den Knochen, so dass ich teilweise zehn Minuten brauchte, bis ich mich ins Bett legen konnte. Aber bitte glaubt mir, ich nähme das alles gern in Kauf, könnte ich damit etwas an meiner momentanen Situation ändern.
Denn seit Oktober 2017 gelte ich als sekundär progredient. Das heißt zunächst, dass ich keine Angst vor Schüben mehr zu haben brauche.
Das heißt aber auch, dass alles, was mich ereilt, bleibt oder schlimmer wird.
Es sei denn ich tue etwas dagegen.
Ich habe in 2016 und 2017 das Sportabzeichen geschafft und bin sehr stolz darauf. In 2018 war ich für sechs Wochen in Reha, habe wieder laufen gelernt – um es im halben Jahr danach wieder zu verlernen. Der heiße Sommer tat sein übriges.
Gerade, es ist Anfang April 2019, ist bei uns Frühling. Herrlich sonnig, die Bäume und Büsche strotzen vor Blüten, Bienen und andere Insekten summen so laut, dass ich sie von der offenen Terrassentür an der Grundstücksgrenze hören kann. Das sind etwa acht Meter.
Früher hätte ich mich an einem solchen Tag hinaus gesetzt. Ich war als Kind schwierig im Haus zu halten, war viel auf dem Spielplatz und habe oft genug die Ermahnungen meiner Mutter („du kommst vor dem Dunkelwerden nach Hause!“) in den Wind geschlagen. Ich war ein Bewegungsmonster, das turnte, Fahrrad fuhr, segelte, ritt, tanzte, …
Heute läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter, wenn mein lieber Mann vorschlägt, das Feierabendbier auf der Terrasse zu trinken, und ich bin froh, dass ich es mir so organisieren konnte, um Ostern herum für kapp drei Wochen nicht in die Firma fahren zu müssen. Damit brauche ich das Haus nur zu verlassen, wenn ich das wirklich will.
Aus dem Bewegungsmonster ist ein Stubenhocker geworden.
Ich hoffe inständig, das meine Geschichte trotz allem noch viele Episoden bekommt. Und auch und gerade solche, die sich draußen abspielen.
Zum Glück lebe ich in Westeuropa. Hier (gerade in Deutschland) ist noch lange nicht alles barrierefrei oder behindertengerecht, aber ich habe Zugang zu Hilfsmitteln, wie eben einem Rollstuhl, und muss mir keinen selbst basteln.
Über die finanzielle Seite schweigt des Sängers Höflichkeit.