Ob Rhetorik, Stimmbildung oder Motivationstraining, jedes Seminar, jeder Vortrag, jedes Coaching, das ich bisher erlebte, fand auf zwei Beinen statt. Das beginnt in der Schule, setzt sich im Studium fort und findet sich in Vorträgen und Präsentationen auch im Berufsleben wieder.
Sich auf der Bühne, bei einer Besprechung oder im Seminarraum zu bewegen, wichtige Sätze mit großen Gesten zu äußern und der Zuhörerschaft damit eine angenehme Erinnerung zu geben, untermalt jede Botschaft. Wenn Menschen mich nur vom Telefon kennen, können sie oft nicht glauben, dass ich im Rollstuhl sitze.
Meine bisherigen Vorträge hatten immer etwas mit Gegebenheiten zu tun.
Und: ich sprach im Stehen.
Ich konnte hin und her gehen und – gerade in der Stimmbildung - die Bewegungen, die meine Zuhörer machen sollten, vormachen. Seit knapp drei Jahren ist das anders.
Seitdem fällt mir immer wieder auf, dass behinderte Menschen eine andere Art der Aufmerksamkeit bekommen, die nicht in allen Fällen positiv ist. Ich spreche von Überfürsorglichkeit genauso wie von aktiver Missachtung.
Mein großes Glück ist, dass mich viele Menschen in meinem direkten Umfeld als Gehende kennen lernten und daher in den meisten Fällen um mein Können wissen. Andererseits ist genau das oft eine Herausforderung, wenn nämlich ebendieses Können in seiner altbekannten Form einfach vorausgesetzt wird. Ich sage zwar oft, dass der Inhalt meines Kopfes noch derselbe sei, weiß aber, dass er nicht immer auf dieselbe Weise abrufbar ist.
Wer es nie anders gekannt hat, als selbst im Sitzen einem stehenden Redner zu lauschen, der wird es vielleicht für gegeben oder eine Berufsvoraussetzung halten. Ich hingegen, so wie vermutlich viele Menschen, die durch Unfall oder Krankheit plötzlich im Rollstuhl sitzen, habe erfahren müssen und dürfen, dass die Notwendigkeiten sich verändern, wenn die äußeren Umstände sich verändern. Ich könnte sicher auch den Mund halten und hinnehmen, aber dafür bin ich zu laut.
Am 13. Dezember 2018 nahm ich an einer größeren Veranstaltung unserer Firma teil, bei der Mahsa Amoudadashi, eine wunderbare Gastrednerin, einen Vortrag hielt. Es ging um Herzlichkeit, Begeisterung und daraus entstehender Qualität. Mahsa brachte mich auf den Gedanken, Vorträge zu halten, die eben nicht im Stehen stattfinden.
Im Rollstuhl wird man schlecht gesehen, also ist es umso wichtiger, dass man gehört wird. Nicht durch Lautstärke sondern durch Inhalt. Das ist nicht so einfach, vor allem, wenn man Menschen begegnet, die Behinderten im Allgemeinen und Rollstuhlfahrern im Speziellen wenig zutrauen.
Mahsa zeigte uns in ihrem Vortrag fünf aufeinander aufbauende Stufen:
Stilisierte Blüte mit fünf Blütenblättern, in denen die Worte Aufmerksamkeit, Respekt, Höflichkeit,
Toleranz und Empathie stehen.
Sicherlich ging es dabei in erster Linie um Beziehungen in der Arbeit. Aber besteht nicht die Möglichkeit oder sogar Notwendigkeit, diese Beziehungen auch auf das restliche Zusammenleben zu übertragen? Ich denke schon und möchte einmal versuchen, diese fünf Stufen nach meinem Verständnis zu deuten.
Fangen wir auf der Grundlinie an. Aufmerksamkeit heißt, dass ich mein Gegenüber zur Kenntnis nehme. Ich spreche direkt mit ihm, unterbreche ihn nicht und beleidige ihn nicht. Wenn ich mein Gegenüber länger oder besser kenne, sehe ich vielleicht sogar, dass er eine neue Brille hat oder müde aussieht und merke das freundlich an. Es ist ein gleichwertiger Mensch, und es sollte völlig egal sein, ob ich seiner Körpergröße wegen zu ihm aufsehe oder, weil er zum Beispiel im Rollstuhl sitzt, auf ihn herunterblicke. Sollte egal sein, ist es aber häufig nicht.
Das führt uns zur zweiten Stufe: Respekt. Ein Beispiel: ich muss jemanden nicht mögen, um seine Kompetenz zu schätzen. Es ist völlig ausreichend, diesen Menschen zu respektieren. Kompetenz ist hierbei das Schlüsselwort, denn wenn ich einem Menschen keine Chance gebe, Kompetenz zu beweisen, kann ich nicht wissen, inwieweit er einer gestellten Aufgabe gewachsen ist. Wenn ich also beispielsweise als Lehrer den Schüler immer wieder ignoriere, der sich stetig meldet, weiß ich wenn überhaupt erst in einer Klassenarbeit, was er weiß. Obendrein demotiviere ich ihn. Ebenso geht es jedem Menschen, dem die Erfüllung einer Aufgabe nicht zugetraut wird. Schlimmer noch, wenn das wiederholt passiert.
Stufe drei: Höflichkeit. Egal ob sich jemand auf zwei Beinen oder im Rollstuhl fortbewegt, sobald ich jemandem direkt begegne oder neu zu einer kleineren Gruppe Menschen dazukomme, grüße ich. Das kann auf dem Arbeitsweg sein, im Wartezimmer, an der Bushaltestelle. Genauso bedeutet Höflichkeit, dass man nicht von vorn herein davon ausgeht, sich in einem feindlichen Umfeld zu bewegen. Sicherlich ist es nicht vorrangig positiv, aber doch neutral. Wenn ich also keinen Säbelzahntiger an der Bushaltestelle sehe, so ist das eher normal. Zu meinem großen Glück durfte ich bisher vielen Menschen begegnen, die Höflichkeit mit Hilfsbereitschaft gleichsetzen und fragen, ob sie helfen können. Einmal, als ich die angebotene Hilfe ablehnte (Mein Spruch dafür ist normalerweise: „Ich bin so ein Trotzkopf, ich muss so viel wie möglich allein können“) bekam ich die Antwort, dass man mich verstände, aber als Hilfsbereiter auch traurig oder sogar angegriffen sei, wenn das freundlich und ernst gemeinte Angebot abgelehnt werde. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir Rollifahrer da auch noch eine Menge zu lernen haben – gerade was Höflichkeit angeht. Andererseits kann es natürlich sein, dass ich als verhältnismäßig neu Betroffene gar nicht recht weiß, wie tief die Klüfte zwischen Behinderten und nicht Behinderten sind und dass ich bisher nur an der Oberfläche gekratzt habe.
Kommen wir zur Toleranz. Wir leben in einem Land, das die Gleichbehandlung aller seiner Bürger per Gesetz geregelt hat. Seit August 2006 gibt es das Gleichbehandlungsgesetz, das das gleiche Auftreten gegenüber anderen Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder Behinderung fordert. Das heißt noch lange nicht, dass es auch gelebt wird. Die Übergriffe gegen Menschen mit anderer Hautfarbe oder auch gegen Frauen sind bekannt, aber es muss hier nicht immer um Übergriffe gehen. Es wäre schön, wenn im alltäglichen Umgang miteinander mehr Toleranz walten gelassen würde. Körperlich behinderte Menschen werden oft entweder als Krüppel oder auch als geistig zurückgeblieben angesehen. Gerade Rollstuhlfahrer werden manchmal wie Versatzstücke behandelt, die ohne eigenen Willen einen Weg entlang geschoben werden, oder als Hindernis, über das man hinwegspringen kann.
Die fünfte Stufe ist die Königsdisziplin: Empathie
Mitfühlen ohne mitzuleiden, mitdenken und nicht vordenken, jedem Menschen seine Zeit zu lassen. Wer das beherrscht, hat häufig sich selbst überwunden. Er ist in der Lage, sich in den anderen hineinzuversetzen und dessen Lage wenigstens zum Teil nachzuvollziehen.
Die Welt wäre ärmer, gäbe es solche Menschen nicht.
Kann man Empathie lernen? Ich denke schon, wie die vielen Helfer behinderter Menschen beweisen. Und genau genommen kennt jeder von uns diese leise Stimme, die zum Beispiel für Rücksichtnahme plädiert. Ohne Empathie gäbe es einen immer gleichen Tagesablauf, der auf den Notwendigkeiten und Bedürfnissen des Pflegers beruht, statt das der Behinderte berücksichtigt oder sogar in den Vordergrund gestellt wird. Ohne Empathie hätten noch viel mehr Behinderte das Problem, dass sich ihre Partner trennen, dass sie in einem Pflegeheim leben müssen, weil ihnen nur dort ein Teil der Aufmerksamkeit gewidmet werden kann, derer sie bedürfen. Ohne Empathie wäre unser generelles Zusammenleben weitaus kälter und geschäftlicher, als es so schon häufig ist.
Jeder Mensch, ob behindert oder nicht, hat Träume, Wünsche und Ziele. Jeder ist für gewöhnlich das größte Hindernis für sich selbst. Gerade Rollstuhlfahrer müssen, um ihre Ziele verfolgen zu können, oft auf Umwegen denken. Ob diese Umwege reale Wege sind oder im eigenen oder fremden Kopf ihren Ursprung haben ist dabei erst einmal zweitrangig. Hier ein Appell an sowohl Geher wie Fahrer: sprecht miteinander. Respektvoll und höflich, keiner weiß besser, was das Richtige für den anderen ist. Gemeinsam Wege zu finden und Ziele zu verwirklichen ist oft ein Erfolg für beide Seiten.